Die Finanzkrise aus ethischer und systemtheoretischer Sicht

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Durch meine langjährige Tätigkeit in der Informatik für die Finanzindustrie sind mir deren Mechanismen nicht verborgen geblieben. Als Informatik-Ingenieur mit betriebswirtschaftlichem Nachdiplomstudium wage ich daher eine sachliche und emotionslose Analyse der aktuellen Finanzkrise, wie ich sie von meiner Arbeit gewohnt bin und die ich in den Medien sehnlichst vermisse.

Falsche Anreize als Triebkräfte der Krise

Investment-Banker sind mathemathisch veranlagte Finanzjongleure und Börsenspekulanten mit einem übertriebenen, spezifisch trainierten Spieltrieb, den sie zum Beruf gemacht haben. Dabei kann man – ohne polemisieren zu wollen – von einer institutionalisierten Spielsucht sprechen. Spielsucht gilt in der Psychiatrie als psychische Erkrankung, die meist von sozialen und psychosomatischen Symptomen begleitet wird und die einer langwierigen Therapie bedarf. Einer solchen Therapie bedarf wohl zur Zeit auch unser krankes Finanz-, Währungs- und Börsensystem.

Börsenspekulanten haben nur ein Ziel: sie wollen das System schlagen und ihren Vorteil daraus ziehen. Ihr Credo ist die Geldgier. „Beat the system!“ heisst ihr Motto und wer dies schafft, wird als Held gefeiert und bekommt einen dicken Bonus. Dabei agieren sie weitgehend ohne jegliches Rechtsempfinden und im vollen Vertrauen in das System – immer ihre Boni vor Augen.

Diese Boni werden aufgrund der Neugeldzuflüsse (ohne Berücksichtigung der Abflüsse), der Grösse der verwalteten Vermögen, der Umsätze sowie und vor allem aufgrund der virtuellen Buchgewinne und nicht aufgrund realisierter und somit realer Gewinne festgelegt und ausbezahlt, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht völlig unsinnig und kontraproduktiv ist. Aber es ist zumindest konsistent dazu, dass Unternehmen Steuern auf Buchgewinne von Wertschriften in ihren Aktiven bezahlen müssen – aber dazu etwas später. Händler und Portfolio-Manager haben folglich ein Interesse an kurzfristigen Zielerreichungen und Buchgewinnen. Die Kunden, deren Gelder sie verwalten, hingegen haben in der Regel langfristige Anlageziele und -strategien, die ihnen nicht zuletzt von den Banken im Rahmen eines „Produktes“ verkauft wurden. Das Bonussystem der Banken steht folglich in einem grundlegenden Interessenkonflikt mit dem Vermögensverwaltungsauftrag und den Interessen der Bankkunden. „Quick Wins“ sind mit einem seriös betriebenen Bankengeschäft gänzlich unvereinbar.

Buchgewinne (und auch -verluste) an den Börsen sind virtuelle Realitäten, solange sie nicht realisiert, d.h. in bare Münze getauscht werden. Dass solche virtuelle Realitäten nicht lange bestehen können, da ihnen die Substanz der realen Welt fehlt, konnten wir schon am Aufstieg und Niedergang von Second Life erfahren. Problematisch ist, dass das Wirtschaftswachstum unter anderem auch basierend auf diesen virtuellen Buchgewinnen berechnet wird, was die Realität zu einem grossen Teil verzerrt.

Das System der Finanzbörsen

Aktien, Obligationen und Finanzbörsen wurden einst erfunden, um durch den Verkauf von Schuld- und Anteilscheinen, Kapital aufnehmen zu können und die entsprechenden Wertpapiere handelbar zu machen. Doch schon bald entwickelte sich eine neue Form des Glückspiels in Form von Wetten auf steigende und fallende Börsenkurse sowie auch Wetten auf den Kurs dieser ebenfalls handelbaren Wettscheine. Diese Börsenkurs-Wetten wurden standardisiert und legalisiert. Damit war das Derivatgeschäft geboren. Die Banken sind in diesem Spiel einerseits die Buchmacher, welche andererseits zusätzlich ihre eigenen Angestellten beschäftigen, um in ihrem Namen mitzuspielen. Als das Spiel schon bald ausgereizt schien, machte man es auch Kleinsparern schmackhaft und lud sie ein, mit ihrem hart Ersparten das Schneeballsystem zu füttern. Fortan nannte man die neuen Mitspieler „Kleinanleger“. Doch auch hier bremste die Sättigung schon bald das Wachstum. So wurden immer neue „Finanzprodukte“ erfunden, bis niemand mehr so recht die Übersicht hatte, das Spiel ausser Kontrolle geriet und das Kartenhaus nun eingestürzt ist.

Wenn Derivatgeschäfte (trotz aller Vernunft) weitergeführt werden sollen, müssen wenigstens die Spieler, Berater, Propheten und Buchmacher getrennt werden. Eine Bank, die Kundenvermögen verwaltet und zugleich eigene Kaufs- und Verkaufsempfehlungen abgibt, selber mitwettet und bei jeder Transaktion an den Kommissionsgebühren dick mitverdient, steckt in einem unüberwindbaren Interessenkonflikt. Hier sollte die gleiche Gewaltentrennung herrschen wie in demokratischen Ländern bei den Staatsgewalten (Legislative, Exekutive und Judikative).

Aber auch die Bilanzierung und Besteuerung von Wertschriften müsste grundlegend geändert werden. Es darf nicht sein, dass Buchgewinne an den Börsen als Eigenkapitalzuwachs zu versteuern sind, und ebenso wenig dürfen überbewertete Wertpapiere die Bilanz eines Unternehmens verfälschen. Das führt nur zu Buchhaltungsakrobatik und einer Schwächung von Unternehmen und der gesamten Wirtschaft. Wenn die Börse boomt, mehrt das (zumindest buchmässig) den Wert der Depotbestände eines Unternehmens. Wenn diese Kursgewinne nicht realisiert, d.h. die betreffenden Positionen nicht verkauft werden, kann das auch schon mal zu Liquiditätsproblem bei der Steuerrechnung führen. Um den virtuellen Gewinn zu versteuern oder auch die Rendite des virtuell gestiegenen Eigenkapitals mittels Leverage-Effekt zu optimieren, muss Fremdkapital aufgenommen werden. Bricht die Börse wie aktuell ein, schmilzt damit die Eigenkapitaldecke des Unternehmen und die Bonität dahin, was wiederum zu Liquiditätsproblemen und zur Zwangsrealisierung von Verlustpositionen führen kann. Ein Titel sollte deshalb bilanz- und steuertechnisch nur maximal zum Einstandpreis bewertet werden. Zu versteuern wäre nur der effektiv realisierte Gewinn beim Verkauf. Zumindest auf dieser Baustelle ist die EU-Kommission bereits aktiv geworden.

Als ich bereits vor ungefähr zehn Jahren einmal meine Bedenken zum System der Börse und Finanzmärkte aus der Sicht eines „naiven“ Ingenieurs in Bankenkreisen geäussert hatte, musste ich mir anhören, wie wenig ich doch vom Bankengeschäft verstünde und anscheinend die Regeln des System nicht verstanden hätte. Vielleicht war es meine Unbefangenheit, mit der ich damals ein paar Kollegen vor den Kopf stiess. Ich bilde mir nichts darauf ein, nun vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse doch Recht behalten zu haben. Schliesslich bin ich lange nicht der Einzige, der machtlos zusehen musste, wie sich das Unwetter zusammenbraute und sich nun in einer globalen Finanz- und Wirtschaftkrise entlädt. Es gibt Situationen im Leben, in denen man gerne darauf verzichten würde, Recht zu haben.

Der Auslöser

Zeitgenossen mit einem monokausalen Weltbild werden die aktuellen Probleme in ihrer Komplexität nie begreifen. Die Ursachen der Krise sind mehrschichtig und miteinander verwoben. Einer der Gründe ist sicher auch, dass die Weltwirtschaft sich zu sehr von den USA und ihrer Währung als globales Zahlungsmittel abhängig gemacht hat. Spätestens jetzt sollte jedem klar sein, dass der US-Dollar als Leitwährung ausgedient hat. Generell ist es falsch, die Währungen der gesamten Weltwirtschaft an einer „Leitwährung“ auszurichten, die dadurch so etwas wie ein Monopol der Finanzmacht darstellt und damit systembedingt das Potenzial erhält, den Globus bewusst oder unbewusst zu manipulieren und terrorisieren. Woraus sich dieser Führungsanspruch der USA ableitet, lässt sich mit Logik und Vernunft nicht erklären. Es ist vielmehr die Naivität der anderen Nationen, die einem Land, das de facto schon bankrott ist, diese Führungsrolle zugesteht. Das globale Währungssystem bedarf einer grundlegenden Reform und muss wieder in ein stabiles Gleichgewicht gebracht werden.

Das Land, das uns einst den Jazz, den Blues und den Rock n‘ Roll gebracht hat, bringt jetzt die gesamte Weltwirtschaft ins Rocken und Rollen. „Das Verrückte daran ist die Rolle, die wiederum der 11. September 2001 in der ganzen Sache spielt.“ bemerkt Patrik Etschmayer in seinem Beitrag „Teeren, Federn und in den Kerker werfen?“ bei Nachrichten.ch. Um die US-Wirtschaft vor der drohenden beziehungsweise schon einsetzenden Rezession zu retten, wurde viel Luft in das System gepumpt, „der Immobilien-Markt angekurbelt und damit die Basis der heutigen Krise gelegt. […] Die US-Banken profitierten dabei von Deregulierungen, nachlässigen Kontrollen und immer neuen Methoden, Geld aus dem Nichts zu generieren, während der amerikanische Staat immer grössere Summen in den nicht enden wollenden Krieg am Zweistromland pumpte. Die freie Hand, welche die Banken dabei hatten und das durch den Immobilien- und Aktienboom generierte Pseudogeld halfen dabei, sowohl den Krieg als auch die Wirtschaft am Laufen zu halten.“. Die USA haben versucht, den Teufel mit dem Beelzebuben auszutreiben. Dieses Projekt ist nun kläglich gescheitert und hat eine globale Lawine ausgelöst – manche sprechen sogar von einem Finanz-Tsunami.

Der versuchte Weg aus der Krise

Die „Selbstheilungskräfte“ der freien Marktwirtschaft bekommen durch die staatlichen Hilfspakete gar keine Chance, sich unter Beweis zu stellen. Zu gross ist die Angst, dass diese Kräfte, wenn sie sich nun ungebremst entfalten, die ganze Wirtschaft lahm legen und uns in eine noch grössere globale Krise stürzen könnten. Da fehlt uns anscheinend das Vertrauen in das System, das wir zum Motor unserer Zivilisation gemacht haben. Manch einem mag hier Goethes Faust in den Sinn kommen: „Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“. Vielleicht sind wir aber auch etwas zu verwirrt von all den widersprüchlichen Botschaften, die wir in den letzten Wochen in den Medien vernommen haben.

Der Bund der Eidgenossen springt mit 68 Milliarden Schweizer Franken für die UBS in die Bresche, um die Volkswirtschaft vor noch grösserem Schaden zu bewahren. Ob dies damit wirklich gelingt, ist nicht unumstritten. Zweifel sind berechtigt, denn ein wirkliches Sanierungskonzept liegt noch nicht vor. Als Gegenleistung für das Geschenk aus Steuergeldern verlangt das Volk die Streichung der aus ethischer Sicht unangebrachten Boni mit dem Argument, dass angesichts der Misere keine ausserordentliche Leistung vorliege, die zu einer ausserordentlichen monetären Honorierung berechtige. Der Steuerzahler würde betrogen, wenn das System „Gewinne behalten und Verluste sozialisieren“ Schule machen würde. Finanzspritzen zur Reanimierung eines dem Tod geweihten Patienten verpuffen im Wind. Genauso sinnvoll ist es, einem Drogensüchtigen Drogen zu verabreichen, damit er kurzfristig nicht auf den Hund kommt. Die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft wieder ins Lot zu bringen, wäre sinnvoller als sie mit diesen unter „Notrecht“ gesprochenen Krediten oder sonstwelchen schöngeistigen Konjunkturprogrammen wieder in Schwung bringen zu versuchen.

Das Bonus-System und die Manager-Gehälter in der öffentlichen Diskussion

Soll man die Banker nun allesamt teeren und federn oder von ihnen fordern, auf ihre vertraglich zugesichertern Boni zu verzichten? Das Erstere würde zur Verwaisung der Banken führen und das Letztere widerspricht dem geltenden Arbeitsrecht. Den Hebel müsste man bei den Verantwortlichen ansetzen, die solche Arbeitsverträge mit exorbitanten, unmoralischen und unternehmensfeindlichen Bonuszahlungen ausgearbeitet und unterschrieben haben. Sie könnten der ungetreuen Geschäftsführung und der grobfahrlässigen Schädigung ihres Unternehmens angeklagt und für ihr Verschulden zur Rechenschaft gezogen werden. Nur, welcher Staatsanwalt hat das nötige Format, um hier im Kugelhagel der Kritik für Recht und Ordnung zu sorgen? Wahrscheinlich würde das aber auch wieder nur auf das Teeren und Federn ausgewähler Bauernopfer der oberen Führungsetagen hinauslaufen.

Es hilft uns auch nicht weiter, die Probleme einfach nur schön zu reden oder gar wegzudiskutieren wie Herr Vasella dies tut. Er erachtet eine Systemänderung für unnötig und bezeichnet die Diskussion um Löhne und Boni als puren Populismus. Aber es kann doch nicht sein, dass die Krise keine Konsequenzen für das System und seine Protagonisten hat und alles beim Alten bleibt. Wir brauchen einen Systemwandel!

Die Chancen der Krise

Die Finanzkrise bietet aber auch Chancen. Projekte, die sich als sinnlos herausgestellt haben oder sonstwie in Schieflage geraten sind, können mit der Begründung der nun praktisch überall anstehenden, nötig gewordenen Sparmassnahmen eingestampft und entsorgt werden, ohne dass jemand den schwarzen Peter dafür kassieren, den Kopf dafür hinhalten oder das Gesicht verlieren müsste. Eine solch günstige Gelegenheit zur Bereinigung der Projektlandschaft (nicht nur in der Finanzbranche) bietet sich nur selten und kommt so schnell nicht wieder.

Aus den Erfahrungen im Change Management wissen wir, dass jede Änderung erst dann umgesetzt werden kann, wenn die Zeit reif dazu ist, d.h. wenn der Leidensdruck ein genügend hohes Ausmass angenommen hat und als nicht mehr tragbar erscheint. An solche einem Punkt sind wir in der Finanzwirtschaft angelangt. Ignoranz, Neid, Rachegelüste und politisch motivierter Populismus sind die grössten Feinde einer vernünftigen Sanierung unseres kranken Systems. Nur leider sind die Medien voll davon.

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